Der folgende Beitrag wurde von Miriam Burfeind, Mitarbeiterin im Projekt UOS.DLL, für die Blog-Kategorie “Meinungen und Haltungen” verfasst.
Seit fast zwei Jahrzehnten gilt Gamification als Trendthema in der Bildungswissenschaft, welchem zahlreiche Potentiale und Chancen zugeschrieben werden. Wortwörtlich kann der englische Terminus Gamification mit der “Spielifizierung” oder “Spielifikation” gleichgesetzt werden. Die häufigste Definition stammt von Deterding et al. (2011), nach der allgemein die “Anwendung spielerischer Elemente in nicht spielerischen Kontexten” verstanden wird. Die Logik ist einfach: Komponenten, die nachweislich im Spiel die Motivation erhöhen können, werden zu einer Situation hinzugefügt, in der augenscheinlich wenig Motivation vorhanden ist. Solche spielerischen Komponenten können z. B. Avatare, Punkte, Level, Hintergrundgeschichten sein, welche für eine gelungene Übertragung wie ein Baukastensystem miteinander verknüpft werden sollten (Werbach und Hunter, 2016). Im idealen Fall interagieren diese Komponenten dann so miteinander, dass Mechanismen und Dynamiken entstehen, die sowohl extrinsische als auch intrinsische Motivationslagen auslösen (z. B. durch positive Anreizsysteme, Fortschrittsgefühle, Wettbewerb oder soziale Eingebundenheit). Dies ist auch konzeptuelle Grundlage für Game-based Learning und Serious Games, die das Ziel der Wissensvermittlung in den Vordergrund stellen und sich dafür – vereinfacht gesagt – an dem Baukasten Gamification bedienen.
Soweit so gut … Sowohl Forscher*innen als auch Praktiker*innen aus dem Bildungsbereich konzentrieren sich auf diese Wirkungen und die Menge an begeisterten Fans nimmt stetig zu. Auch aus wissenschaftlicher Sicht gibt es Grund zur Freude, zeigt sich doch in mehreren Metaanalysen ein generell positives Bild von der Wirksamkeit in Bezug auf Motivation und Lernleistung (z. B. Koivisto und Hamari, 2019). In den Analysen zeigen sich die Autor*innen aber auch irritiert über die hohe Datenlage gemischter und unklarer Ergebnisse. Der Verdacht liegt nahe, dass die grundsätzliche Argumentation derart positiv geprägt ist, dass das Bild verzerrt sein könnte. Koivisto und Hamari fordern mehr Fokus auf die “dark side of gamification”. Dieser Begriff ist ein Sammelbecken für negative Auswirkungen von Gamification. Und tatsächlich gibt es eine mögliche Evidenz für umgekehrte motivationale Effekte: Statt positiver könnte Gamification auch negative Emotionen verursachen wie Angst, Entmutigung oder das Gefühl mangelnder Fairness. Heinz und Fischer (2020) fassen mehrere Studien zusammen und sortieren negative Effekte mit dem Hintergrundgedanken, dass es weniger die “dark side of gamification” sein muss, sondern eher die “grey side”. Oftmals können Aspekte je nach Nutzertyp sowohl negativ als auch positiv sein.
Ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt an dem Konzept Gamification ist ein ethischer: Jemand, der*die tief im Spiel eingetaucht ist, merkt womöglich gar nicht, wie sein*ihr Verhalten gesteuert oder gar manipuliert wird. Sein*ihr Ziel ist es, zu gewinnen oder Fortschritt zu machen. Die Betreiber*innen dieses Spiels können aber womöglich ein ganz anderes Ziel haben, z. B. Profit. Im Bereich Werbung und Marketing lässt sich also ganz klar ein Interessenkonflikt zwischen den User*innen und den Betreiber*innen erkennen, den letztere dank Gamification verschleiern können. Für den Philosophen und Spieledesigner Ian Bogost stellt Gamification daher gar eine “exploitationware” dar. Die kaltherzige “bullshittige” Marktwirtschaft reiße sich das “magische Medium des Spiels” unter den Nagel. Den gesamten Blogartikel können Sie hier lesen. Die Meinung von jemandem, der*die wie Bogost seit Jahren an das Wertvolle und Gute im Spiel glaubt, lässt sich durchaus nachvollziehen. Inwiefern können sich eigentlich die Nutzer*innen dieser gezielten Manipulation bewusst werden? Ist es verwerflich, ihre eigene Motivation gegen sie zu verwenden, wenn sie doch freiwillig teilnehmen?
Ein ganz anderes – auch ethisch fragwürdiges – Kaliber stellt die Situation dar, wenn nicht klar ist, ob (oder wie lange noch) die Teilnahme freiwillig ist: Besonders dramatisch ist dies auf politischer Ebene beispielsweise in China, wo Bürger*innen zu einem besseren sozialen Verhalten mit Gamification erzogen werden sollen. Erfreulicherweise stellt dieses doch sehr klare Beispiel (noch) eine Ausnahme dar. Hier, hier, hier und hier können Sie sich ein wenig mehr in das Thema einlesen.
Die “dark side of gamification” geht in gängigen Diskursen oft unter und sollte immer mal wieder beleuchtet werden, wenn man sich mit Gamification beschäftigt. Dennoch stellt meines Erachtens der Bildungsbereich eine Ausnahme davon dar. Der oben beschriebene Interessenkonflikt ist kaum vorhanden, da sowohl Betreiber*innen als auch Nutzer*innen von gamifizierten Bildungsanwendungen das gemeinsame Ziel verfolgen: Wissen beibringen bzw. erlernen. Ich persönlich lasse mich gerne dazu manipulieren, öfter und mehr zu lernen. Natürlich gibt es hier auch “Grauzonen”. Aber zumindest Anwendungen aus dem OER-Bereich oder von Bildungsträgern würde ich selbst vertrauen. Erfolgreiche Beispiele gibt zahlreiche. Eins der ersten, das weltweit bekannt geworden ist, ist z. B. “The Multiplayer Classroom” von Lee Sheldon an der Universität Indiana. Auch in Deutschland sind in den letzten 10-15 Jahren zahlreiche Projekte im Bildungsberiech angestoßen worden, insbesondere die Serious Games erfahren große Beliebtheit (einige Beispiele aus der Beruflichen Bildung finden Sie hier). Auch an der der Universität Osnabrück gibt es ganzheitliche Ansätze oder gamifizierte Übungen, wie den Kommatrainer.